Die Trauer einer Eisbärmutter
Der lange Abschied von einem toten Kind
Es war schleichend gekommen. Beim Spielen mit dem Bruder musste das Eisbärenmädchen immer öfter eine Pause machen, um sich auszuruhen. Und beim Drängen an die Milch der Mutter ließ es sich von ihm bald fast widerstandslos beiseite en. Seine Mutter stand dann auf, legte sich nahe zu ihm und schob es sogar mit ihrer großen weißen Pranke näher an ihre Zitzen. Aber die Kleine lag einfach nur da und blickte teilnahmslos über die weite Landschaft der arktischen Tundra. Sie genoss die ersten Strahlen der Frühjahrssonne, die ihr wärmend auf den Pelz schienen. Aber auch das konnte ihr keine neue Kraft geben. Dann kam der Morgen an dem sie einfach liegenblieb.
Ihre Mutter und ihr Bruder gingen ein paar Schritte, und als sie nicht folgte, kehrten sie um. Die Mutter stupste sie mit der Schnauze an - wieder und wieder. „Komm, Kleine, gib dir einen Ruck“, schien sie zu sagen. Das Eisbärmädchen drehte sich auf den Bauch, versuchte sich hochzustemmen – vergeblich. Erschöpft sank es auf die Seite und schloß die Augen. Ausruhen, nur ausruhen. Das Ende kam zwei Tage später im Schlaf. Jetzt hätte die Mutter mit dem Sohn eigentlich weiterziehen müssen, denn das Naturgesetz sagt, daß Tiere keine Trauer kennen. Doch die Bärin wich nicht von der Seite ihrer toten Tochter. Sie saß bei ihr und starrte sie unverwandt an. Ihr Sohn drängte sich an sie, als wolle er ihr Trost schenken. Der Leichnam gefror auf der kalten Erde, die Mutter ging noch einmal zu ihm, schnupperte und ließ sich wieder in den Schnee sinken. Zwei Tage, zwei Nächte. Dann erhob sie sich, ging mit ihrem Sohn ein letztes Mal zu ihrer Tochter und wandte sich entgültig ab. Als sie sich mit ihrer Pfote über das Gesicht wischte, sah es aus, als wolle sie ihre Tränen trocknen. Jetzt rief die Pflicht – denn das zweite Junge forderte sein Recht auf Leben.
von T.F. Emmiot